Neue Musik wozu
Interventionen bei den Donaueschinger Musiktagen 2011
Veranstaltet von der Gesellschaft für Neue Musik (GNM)
Kurze Plädoyers, knappe Statements, Mini-Manifeste von je drei bis vier Minuten Dauer für das aktuelle Musikschaffen und für eine lebendige Neue-Musik-Szene – zu hören von unterschiedlichsten Zeitgenossen oder von Ihnen selbst formuliert und vorgetragen.
Redezeiten: Samstag und Sonntag, jeweils von 14 bis 15 Uhr
Redeorte: markierte Punkte in der Karlstraße in Donaueschingen (beim Café Hengstler, gegenüber vom Kulturamt, vor der Linde, vor dem Rathaus …).
Von Hermann Scherchen (1891–1966), dem Dirigenten und überaus engagierten Kombattanten für die musikalische Avantgarde, der u. a. 1919 die Neue Musikgesellschaft Berlin gründete und damit die älteste Institution zur Pflege der Gegenwartsmusik in Deutschland – Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen konstituierte sich 1918 in Wien –, stammt eines der emphatischsten Bekenntnisse zur zeitgenössischen Musik. Er formulierte es 1940, in Zeiten größter Grausamkeiten, in einem Brief an seine Frau Xiao Shusien:
„mit der zeitgenössischen Musik will die Gegenwart sich darstellen, erhellen und sich ordnen, während sie zugleich das Vergangene bestätigt, verschönt oder beurteilt; sie weist aber auch in die Zukunft, leitet sie ein und lässt sie zur Wirklichkeit werden. Dies ist die Begründung dafür, warum man sich mit der zeitgenössischen Musik auseinandersetzen muss, sie durchdringen […], sie verstehen, kennenlernen, lieben, kämpfen muss, mit ihr, für sie und durch sie.“
Ein anderes Zitat auf dem Weg zur Standortbestimmung der Neuen Musik ist zehn Jahre älter, es ist auch prominenter, und das nicht nur, weil es die Fassade der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar ziert. Ein gewisser Peter Panter publizierte es als einen von etlichen Schnipseln am 30. Dezember 1930 in der Berliner „Wochenzeitschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft“ Die Weltbühne: „Wegen ungünstiger Witterung fand die deutsche Revolution in der Musik statt.“ Woran Kurt Tucholsky, so der Klartextname des Aphoristikers, genau gedacht hat, ist nicht überliefert. Aber es steht zu vermuten, dass er wohl das in Auge und Ohr hatte, was zwei Jahrzehnte zuvor schon in den Feuilletons als „Demokratengeräusche“ gebrandmarkt worden war: die Innovationen der Zweiten Wiener Schule und anderer mit den Traditionen brechenden Komponisten.
Tucholskys Aperçu zitiert Heinz-Klaus Metzger (1932–2009) an zentraler Stelle in seinem Essay Musik wozu, zunächst als Referat im Juni 1969 bei einer Berliner Studentenversammlung gehalten, in dem er arrivierte ästhetische Positionen samt deren Potenziale gegen politische Insuffizienzen ausspielt.
Bei der diesjährigen Ausgabe der Donaueschinger Musiktage, seit 1921 das weltweit älteste Festival für zeitgenössische Musik, greift die Gesellschaft für Neue Musik, die Deutsche Sektion der 1922 in Salzburg gegründeten Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM/ISCM), die von Metzger aufgeworfene Frage (ohne Fragezeichen!) noch einmal in leicht veränderter Form auf: „Neue Musik wozu“. Denn nicht das Gefragte ist das Entscheidende, sondern das Gesagte, überdies das Getane und das künftig zu Tuende.
Stefan Fricke
Für den Vorstand der Gesellschaft für Neue Musik / IGNM – Sektion Deutschland