Streiterin für Neues: Die Musikwissenschaftlerin Marion Saxer ist tot

Ein Nachruf von Julia Cloot

Diskussionen mit ihr konnten lange dauern. Was könnten thematische Schwerpunkte sein und welche Künstler/innen und Wissenschaftler/innen lädt man ein? Sind der klassische Vortrag, die Podiumsdiskussion oder die frontale Konzertsituation noch zeitgemäße Formate oder sollte man nicht einmal ganz anders denken? Mit Marion Saxer ein Symposium oder eine Konzertreihe zu planen, war immer eine kreative Bereicherung, lehrreich, aufregend, eine energische Aufforderung zum Nachdenken. Ihre Projekte verfolgte sie mit Ideenreichtum und Hartnäckigkeit.

In unserer gemeinsamen interdisziplinären Tagung „Expressionismus in den Künsten“ (2010, als Buch 2012 erschienen) sprachen nicht nur Expert/innen unterschiedlicher Disziplinen über Gegenstände ihres Fachs, sondern auch Künstler/innen über Objekte aus einer anderen Kunstsparte. Im Kreuzverfahren entstanden so völlig neue Einsichten der Komponistin zu einem Gedicht, des Videokünstlers zu einer Komposition oder des Dichters zu einem Gemälde. Ähnlich facettenreich waren die Einblicke, die „Mind the Gap!“, die Reihe über Medienkonstellationen zwischen zeitgenössischer Musik und Klangkunst 2009 gewährte. Marion Saxer hatte sie als Mitglied der Frankfurter Gesellschaft für Neue Musik gemeinsam mit ihren Vorstandskolleg/innen erdacht und umgesetzt.

Der interdisziplinäre Zugriff war eines der Charakteristika von Marion Saxers Arbeit. Sie hatte nicht nur Musikwissenschaft (bei Helga de la Motte-Haber in Berlin) und Philosophie studiert, sondern kam als Schulmusikerin und Pädagogin auch aus der musikalischen Praxis und profitierte davon in ihrer Forschung. Das prädestinierte sie für eine Disziplin, die seit einigen Jahren in aller Munde ist, die aber von den wenigsten Kolleg/innen adäquat ausgefüllt werden kann: diae künstlerische Forschung. Wissenschaft und Kunst sollen sich hier zu einem Dritten verbinden, das gegenüber den Einzeldisziplinen einen erheblichen Mehrwert an Erkenntnis beschert und damit die engen Grenzen von Theorie und Praxis sprengt. Die fruchtbare Kooperation zwischen der Universität Frankfurt und der dortigen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst war ihre Initiative. 2013/14 gründete sie an ihrem Institut in Frankfurt ein Performance Labor, um Studierende der Musikwissenschaft, Performer/innen und Komponist/innen miteinander ins Gespräch zu bringen. Ungewöhnliche Aufführungssituationen sollten erforscht, neue Werke gemeinsam einstudiert und diskutiert werden. Im Regelstudium ist für solche Begegnungen kaum Zeit, obwohl sie für die spätere Berufspraxis unabdingbar sind.

Wie wenige Vertreter/innen ihres Fachs hat Marion Saxer ihre umfangreiche Lehrtätigkeit und den direkten Kontakt mit den Studierenden immer als Inspirationsquelle empfunden und beständig mit neuen Unterrichtsformen experimentiert. Nach vielen Jahren als Dozentin an Konservatorium und Universität in Mainz, an der Musikakademie in Wiesbaden, an den Musikhochschulen in Köln und Frankfurt, an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Graz und einer Professur an der Musikhochschule in Lübeck lehrte sie seit 2013 als Professorin für Historische Musikwissenschaft mit Schwerpunkt Zeitgenössische Musik und Klangkunst an der Goethe Universität in Frankfurt. Schon zwei Jahre vorher wurde dort 2011 ihr unermüdlicher Einsatz als Dozentin mit dem 1822-Preis für exzellente Lehre gewürdigt.

Ihre Publikationsliste als Autorin ist lang und keineswegs, wie es der Titel ihrer Professur vermuten ließe, nur auf die Neue Musik und Spielarten der Klangkunst fokussiert. Nach ihrer Promotion über Morton Feldman („Between Categories“, 1998) einem grundlegenden Werk zum Komponieren des amerikanischen Komponisten von 1951-1977, publizierte sie zwar im ganzen Spektrum von Neuer Musik, Klangkunst und Medienforschung über Werke des 20. und 21. Jahrhunderts, über John Cage, Salvatore Sciarrino oder Rolf Riehm, Annesley Black, Michael Reudenbach oder Bernd Thewes, erforschte Medienkonstellationen, Reproduktionsmaschinen oder Aufmerksamkeitsstrategien.

Immer wieder jedoch wandte sie sich weit zurück liegenden Epochen und Themenfeldern zu, etwa Monteverdis „L’Orfeo“ in ihrem Habilitationsvortrag. Einen nicht unwesentlichen Teil ihres Schriftenverzeichnisses machen musikpsychologische oder musikpädagogische Studien aus, darunter der zauberhafte Band „Anfänge. Erinnerungen zeitgenössischer Komponistinnen und Komponisten an ihren frühen Instrumentalunterricht“ (2004). In der Wahl ihrer Gegenstände ignorierte sie nicht nur jeglichen Mainstream, sondern sie fand für jeden noch so scheinvertrauten Forschungsgegenstand eine überraschende Perspektive, die sie so anschaulich darzustellen vermochte, dass nicht nur die Fachleserschaft sich angesprochen fühlen durfte. Im Januar 2020 konnte sie ihr letztes Buch fertig stellen, es erscheint im Olms Verlag: „Quintendiskurse. Das Quintparallelenverbot in Quellentexten von 1330 bis heute“ und darin Fragen aufwerfen und beantworten, die sich wohl nahezu jeder Musiktheoretiker schon einmal gestellt hat.

Am 18. Mai 2020 ist Marion Saxer im Alter von 59 Jahren in Frankfurt am Main gestorben.

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